Mythen Dehnen: Läufer sitzt auf Laufbahn und dehnt sich.

Mythen der Gesundheit, des Sports und der Ernährung –

Teil 4: Dehnen vor dem Laufen verringert das Verletzungsrisiko?

Dienstag, 7.11.2023
Autor: Dr. Bernd Gimbel, KörperManagement® KG
© Foto: Emil Lime/peopleimages.com, Adobe Stock

Wahrheit oder Mythos? Bei manchen Themen rund um Gesundheit, Sport & Ernährung fragst Du Dich das sicherlich ab und an. Unser Experte Dr. Gimbel hat die Antworten! Im 4. Teil seiner Reihe erklärt er Dir, ob Dehnung vor dem Laufen Dein Verletzungsrisiko verringert?!

Dehnen ist im Sport auf allen Leistungsebenen eine wichtige Trainingsmaßnahme. Zur Verbesserung der Beweglichkeit sind Dehnübungen ohne Zweifel hilfreich. Allerdings haben sich in der Sportwissenschaft die Meinungen über die unterschiedlichen Dehntechniken in den letzten Jahrzehnten mehrmals geändert. Als das Stretching aufkam, waren wippende Dehnübungen verpönt. Mittlerweile gehören sie wieder zum Standard. Auch ist die Frage, ob die Anwendung von Dehnübungen vor oder nach dem Training sinnvoller ist. So kommt es, dass sich um das Dehnen viele Mythen ranken. Einer davon ist, dass wir durch Dehnen vor dem Laufen das Verletzungsrisiko verringern können.

In meinem neuen Blogbeitrag möchte ich zu diesem Thema mehr “Licht ins Dunkel“ bringen.

Welche Strukturen können wir dehnen?

Wer kennt nicht die Steifheit der Gelenke nach vielen sitzendenden Stunden vor dem PC oder mit zunehmendem Alter? Hand aufs Herz: Erreichen Ihre Hände im Stand mit gestreckten Knien und geschlossenen Beinen noch die Fußspitzen? Erkennen Sie im Spiegel bereits einen sich ausbildenden Rundrücken?

Foto: Maridav, Adobe Stock
Pilates: Füße uns Hände auf Pilatesmatte

Häufig werden für die Einschränkungen der Beweglichkeit unterschiedliche Begriffe verwendet. „Mir fehlt die Flexibilität oder Dehnfähigkeit“ sagen die einen. Die anderen sprechen von eingeschränkter Gelenkigkeit. All diese Begriffe werden häufig synonym verwendet. Dies ist nicht korrekt, denn sie beziehen sich auf unterschiedliche biologische Strukturen.

Während sich Gelenkigkeit auf die Ausprägung des Gelenks, also auf die Knochenstrukturen bezieht, stehen die Begriffe Dehnfähigkeit und Flexibilität im Zusammenhang mit den Muskeln und den sie umgebenden Bindegewebestrukturen (Sehnen, Bänder, Gelenkkapsel). Beim Dehnen können wir keinen direkten Einfluss auf die knöchernen Elemente (passive Strukturen) nehmen, sondern ausschließlich auf die Muskulatur und das fasziale Bindegewebe (aktive Strukturen). Das Training der aktiven Strukturen kann dann zu einer besseren Beweglichkeit des trainierten Gelenks führen.

Dehnen vor dem Laufen?

Wenn Sie sich vor dem Laufen dehnen, dann möchten Sie aber nicht die Beweglichkeit verbessern, denn das ist ein Prozess, der sich über einen längeren Trainingszeitraum vollzieht.

Mythen Dehnen: Paar stretcht Beine an Mauer.
© Foto: astrosystem, Adobe Stock

Sie möchten sich vermutlich eher auf die Laufbelastung vorbereiten und gehen womöglich davon aus, dass Sie dadurch weniger verletzungsanfällig sind. Mit diesem Ritual haben Sie ein besseres Gefühl für Ihre anstehende Trainingseinheit. Wissenschaftlich ist dies nicht belegbar.

Zumindest das statische Dehnen, das seit den 80er-Jahren auch unter dem Begriff Stretching bekannt geworden ist, bringt keine nennenswerten Vorteile. Im Gegenteil, direkt vor der körperlichen Aktivität angewandt, steigt sogar das Verletzungsrisiko, da die Muskulatur sich entspannt und dadurch die Schnelligkeit sowie die volle Kraftentfaltung verloren geht. So sinkt beispielsweise die Leistungsfähigkeit der Wadenmuskulatur um 15 %. In einem 2023 beim Thieme Verlag erschienen Buch schreiben die Autoren, dass man je nach Sportart 5 bis 23 Jahre dehnen muss, um Muskelsehnenverletzungen zu vermeiden.

Dass Dehnung vor dem Laufen das Verletzungsrisiko senkt, ist damit ein Mythos und lässt sich wissenschaftliche nicht belegen.
Auch können Dehnübungen  vor dem Laufen Muskelkater nicht vorbeugen.

Die Dehnmethode bestimmt die Wirkung

Kein statisches Dehnen bedeutet aber nicht, generell auf das Aufwärmen vor der Laufbelastung zu verzichten. Vor jedem sportlichen Training wird der gesamte Organismus (Herz-Kreislauf-, Atmungssystem, Bewegungsapparat, Stoffwechsel) allgemein auf die Belastung vorbereitet. Auch die mentale Komponente -gleich geht es los- spielt dabei eine wichtige Rolle.

Neben dem Mobilisieren ist für die Vorbereitung des Körpers auf die Laufbelastung auch das Dehnen von Bedeutung. Allerdings nicht das statische Dehnen oder Stretching, sondern das dynamische Dehnen. Dabei wird versucht, über mehrmalige langsam federnde Bewegungen in der Endstellung des Gelenks, das Gelenkspiel zu erweitern.

Mythen Dehnen: Mann streckt Bein und dehnt sich dynamisch.
© Foto: Maridav, Adobe Stock

Mit zunehmender Wiederholungszahl erzielen wir eine größere Bewegungsamplitude. Da dabei gezielt vom zentralen Nervensystem die Muskeln angesteuert werden, ist diese Dehnmethode eher für Fortgeschrittene geeignet, die ihren Körper gut kennen. Weitere Vorteile dieser Dehnmethode sind die geforderte Koordination innerhalb und zwischen den einzelnen Muskeln sowie die verbesserte Muskeldurchblutung durch die dynamischen Bewegungen. Vorsicht ist allerdings bei zu intensiv federnden Bewegungen geboten, da dadurch der sogenannte Dehnungsreflex ausgelöst werden kann. Dieser Mechanismus schützt bei schnellen Bewegungen den Muskel vor einer Überdehnung, indem er ihn reflexartig zusammenzieht.

Dehnen ja, aber richtig

  • Erwärmen Sie sich vor dem Lauftraining durch langsames Einlaufen, unterschiedliche Laufübungen und leichte Mobilisationsübungen für alle großen Muskelgruppen. Wenn Sie dehnen, dann dynamisch. Vermeiden Sie aber zu intensive wippende Bewegungen.
  • Dehnen Sie nach dem Training statisch, um Ihren Körper wieder in die muskuläre Entspannung zu führen.
  • Wollen Sie Dehnübungen zu Verbesserung Ihrer Beweglichkeit nutzen, dann führen Sie diese am besten in einer separaten Trainingseinheiten durch.
  • Beim Dehnen sollten Sie einen angenehmen Dehnungsreiz, aber keinen intensiven Schmerz spüren. Ansonsten besteht die Gefahr, dass Sie eine Gegenspannung in der Muskulatur provozieren. Konzentrieren Sie sich beim Dehnen auf den zu dehnenden Muskel. Betonen Sie die Ausatmung, um über den Parasympathikus die Entspannung des Muskels, aber auch die mentale Entspannung zu fördern.
  • Dehnen Sie nicht bei Muskelkater. Dadurch können Sie die in der Muskulatur vorhandenen Mikroverletzungen weiter verstärken.

Ich hoffe, ich konnte mit meinen ersten 4 Beiträgen einige Mythen entzaubern und die „Wahrheit“ ins richtige „Licht rücken“. Jetzt liegt es an Ihnen, Ihre womöglich geschätzten Rituale durch Änderung von Verhaltensweisen zu korrigieren.

Ihr

Dr. Bernd Gimbel

KörperManagement®

Bernd Gimbel © privat
Dr. Bernd Gimbel ist Gesellschafter der KörperManagement® KG. Er war als wissenschaftlicher Mitarbeiter des Bundesausschusses für Leistungssport beim Deutschen Olympischen Sportbund tätig. Derzeit lehrt er als Dozent an der Deutschen Fitnesslehrer Akademie und der Berufsakademie für Sport und Gesundheit in Baunatal. Zudem ist Dr. Gimbel Autor mehrerer Bücher über Körpermanagement.
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