Training fürs Immunsystem: Ein älterer Herr bei Stretching-Übungen im Park während des Herbst

Training des Immunsystems – Ist Bewegung besser als Sport?

Mittwoch, 30.09.2020

Bewegung ist die beste Medizin – ganz ohne Nebenwirkungen, wenn sie richtig durchgeführt wird. Dies ist mittlerweile unumstritten und durch viele Studien bestätigt!

© Foto: ivanko80, Adobe Stock

Bei dieser Aussage denken die meisten vermutlich an die positiven Wirkungen von Bewegung für die Prävention von Herz-Kreislauferkrankungen, zur Vorbeugung von Rückenschmerzen oder zur Gewichtsreduktion. In der aktuellen Corona-Pandemie wird bei der Recherche der Literatur aber deutlich, dass es mittlerweile ausreichende Indizien dafür gibt, dass durch Bewegung auch unser Immunsystem profitieren kann, wenn sie RICHTIG DURCHGEFÜHRT wird. Und wie ist die Wirkung bei (leistungs-)sportlicher Betätigung?

Unser Immunsystem – ein genialer Mechanismus mit komplexen Funktionen

Das Immunsystem besteht aus verschiedenen Organen, Zellarten und Eiweißen. Das bei körperlicher Belastung aktivierte Stresshormon Adrenalin führt zu einer Vermehrung, Aktivierung, Umverteilung und Funktionsveränderung unserer Abwehrzellen. Sowohl die sogenannten natürlichen Killerzellen (kurz NK-Zellen, die beispielsweise Tumorzellen und virusinfizierte Zellen ausschalten können) als auch spezialisierte weiße Blutkörperchen (T- und B-Lymphozyten; T steht für den Bildungsort Thymus, B steht für Bone Marrow, engl. Knochenmark) lassen sich -teilweise bereits nach wenigen Sekunden- im Blut vermehrt nachweisen. Die Aufgabe der Lymphozyten und auch der im Blogbeitrag Das Immunsystem: Funktionsweise und Tipps zur Stärkung erwähnten Immunoglobuline ist es, eingedrungene Krankheitserreger gezielt zu bekämpfen. Sie übernehmen damit die Aufgabe der spezifischen Immunabwehr in unserem Organismus.

Gleichzeitig kommt es durch trainingsbedingte Belastungen zu Schädigungen von Zellstrukturen (z.B. von Muskelfasern). Botenstoffe (z.B. Interleukin-6) werden aus den Geweben freigesetzt und sorgen als unspezifische Immunreaktion dafür, dass unter Einfluss des ebenfalls zu den Stresshormonen zählende Cortisol sogenannte Akut-Phase-Proteine in der Leber gebildet werden. Sie signalisieren der spezifischen Immunabwehr, in unserem Körper nach Entzündungen zu suchen, um sie gezielt zu bekämpfen.

In der Erholungsphase nach dem Training sinkt der Stresshormon-Spiegel im Blut wieder. Damit einher geht eine Senkung der Abwehrzellen und auch die anderen Zelltypen des Immunsystems passen sich der veränderten Situation in unterschiedlicher Weise an. Grundsätzlich ist sich deshalb die Wissenschaft einig, dass Bewegung und Sport Einfluss auf unser Immunsystem nimmt.

Eine Vielzahl von gesundheitsfördernden Wirkungen

Neben dem Hormonsystem werden die unterschiedlichen Wirkungen von körperlicher Aktivität auch durch das vegetative Nervensystem vermittelt. Daran beteiligt sind Zytokine und Myokine. Zytokine sind Eiweiße, die die Signalübertragung zwischen den Zellen regeln und die Differenzierung der Zelltypen steuern. Myokine sind Botenstoffe, die der Körper bei intensiver Muskelbeanspruchung produziert, um Entzündungen zu stoppen und die Immunabwehr besser zu regulieren. In der Folge kommt es zu einer Hemmung von entzündlichen Vorgängen im Körper. Dies begünstigt die Prävention verschiedener Zivilisationskrankheiten (Diabetes mellitus Typ 2, Herz-Kreislauferkrankungen, neurodegenerative Erkrankungen) da mittlerweile bekannt ist, dass Entzündungen bei deren Entstehung mit verantwortlich sind.

Die unterstützende Funktion des Immunsystems bei der Geweberegeneration nach dem Training oder auch nach Verletzungen ist nicht allein auf die Muskulatur begrenzt, sondern auch auf andere Gewebe und Organe übertragbar. Deshalb hat das Immunsystem einen bedeutenden Einfluss auf den Erhalt der Funktionsfähigkeit und der Struktur unseres gesamten Organismus` und trägt so zur Hemmung von Alterungsprozessen bei (Immunseneszenz).

Auch ist der Schutz vor einigen Krebsarten bei bewegungsaktiven Menschen besser als bei Inaktiven. Ursache dafür könnten Trainingsanpassungen sein, die zu einer Reduzierung von freien Radikalen (oxidativem Stress) und damit einhergehenden Folgeschäden an der Erbsubstanz führen. Auch hierbei scheint das Immunsystem eine wichtige Rolle zu spielen.

Ein weiterer wichtiger Aspekt, der sich durch Bewegung und Sport ergibt, betrifft die Eigenregulation des Immunsystems. Die Zahl und die Funktion der T-regulatorischen Zellen steigt in Abhängigkeit der körperlichen Leistungsfähigkeit an. Dies bedeutet, dass sich die Immunreaktion auf neue Erreger (z.B. aktuell auf SARS-CoV-2-Viren) so einstellt, dass einerseits die befallenen Zellen ausgeschaltet werden, aber andererseits die Immunreaktion nicht überschießt. Dies könnte zu einer Überlastung des Organismus und gegebenenfalls zu seinem Versagen führen.

Die Belastungsparameter beeinflussen die Wirkung

Die Wirkung, die körperliche Aktivität auf das Immunsystem hat, hängt von den Belastungsparametern ab. Im Hochleistungssport, wo mit hohen Umfängen und hohen Intensitäten trainiert wird, sind interessanterweise Infektionen der Atemwege ein häufiger Grund für Sportpausen. Extreme körperliche Belastungen (übrigens auch extreme psychische Belastungen) führen zu unterschiedlichen Reaktionen in unserem Körper. Die Fließeigenschaften des Blutes können gestört werden, so dass z. B. die Lymphozyten nicht schnell genug zu den Entzündungsherden oder zu den von Krankheitserregern befallenen Zellen gelangen.

Der Körper überhitzt (Hyperthermie) und übersäuert (Azidose). Die Stresshormone steigen an. Steht dem Organismus danach keine ausreichende Regenerationszeit zur Verfügung, kann es zu einer Unterdrückung des Immunsystems kommen. Das Risiko für Infektionen steigt, weil die Lymphozyten und natürlichen Killerzellen unter ihre Ausgangswerte absinken und in ihrer Funktion beeinträchtigt werden. Nach extremen intensiven Belastungen (Marathonläufe, Triathlon-Wettbewerbe, hochintensives Intervalltraining etc.) kann diese Phase mehrere Stunden andauern („open window“-Phänomen). In dieser Zeit haben Krankheitserreger es leichter, den Organismus anzugreifen, was mit einer erhöhten Rate an Atemwegsinfektionen in Verbindung gebracht wird. Unzureichende Regenerationszeiten führen auf Dauer zu einem Übertrainings-Syndrom (Dauerstress für den Organismus) mit vielfältigen gesundheitlichen Beeinträchtigungen und Leistungsabfall.

Moderate Intensitäten und Belastungen bis zu einer Stunde, wie sie im gesundheitsorientierten Training vorherrschen, erzeugen eher immunstimulierende Effekte. Durch die Ausschüttung des Adrenalins steigt die Zahl der Immunzellen im Blut an. Nach extensiven Belastungen bis zu einer Stunde oder nach maximal 30-minütigen intensiven Belastungen an der Dauerleistungsgrenze (individuell-anaerobe Schwelle) kehren sie rasch wieder auf ihren Ausgangswert zurück. Atemwegsinfektionen treten deshalb bei Trainierenden mit moderatem Trainingsumfang (z.B. 15-25 Laufkilometern pro Woche) und einer mittleren Intensität seltener auf.

Körperliche Aktivitäten setzen demnach unseren gesamten Organismus unter zeitlich begrenzten Stress, der auch für das Immun­system einen Trainingsreiz darstellt. Die Beziehung zueinander ist J-förmig (siehe Abb.). Dies bedeutet, dass z.B. das Infektionsrisiko der oberen Atemwege anfänglich mit steigendem Aktivitätslevel sinkt, ab einer bestimmten, individuell unterschiedlichen Schwelle mit höheren Trainingsumfängen und steigender Intensität aber wieder ansteigt. Sportlich hochintensive Belastungen wirken sich demnach tendenziell negativ auf unser Immunsystem aus, während Belastungen mit mittleren Intensitäten eher zu positiven Anpassungen führen.

Fazit für die Praxis

  • Fordern Sie sich beim Training, aber vermeiden Sie, dass Sie sich überfordern. Nutzen Sie außerdem jede Form der körperlichen Aktivität in Ihrem Alltag.
  • Trainieren Sie auf der Basis Ihrer aktuellen Leistungsfähigkeit mit moderaten Umfängen und Intensitäten. Orientieren Sie sich dabei an einem zeitlichen Rahmen von 30 bis 60 Minuten mit Herzfrequenzen, die dem Richtwert 65-75 % von 220 Schlägen / Minute abzüglich Ihres Lebensalters entsprechen. Demnach sollte ein 50-Jähriger (220 – 50 = 170) mit einer Herzfrequenz zwischen 111 (entspricht 65 %) und 128 Schlägen / Minute (entspricht 75%) trainieren.
  • Beachten Sie aber, dass die Herzfrequenzen neben dem Alter von verschiedenen weiteren Faktoren, wie z.B. Geschlecht, Wohlbefinden, Genetik, Medikamenteneinnahme und auch von der Sportdisziplin abhängen. Beim Laufen dürfen sie höher sein als beim Radfahren.
  • Da die o.g. Formel demnach nur einen statistischen Richtwert darstellt (alle 50-Jährige auf dieser Welt müssten mit derselben Herzfrequenz trainieren), ist es ratsam, Ihre persönliche Belastbarkeit mit einer Laktatdiagnostik zu bestimmen. Trainieren Sie danach mit Ihrer persönlichen Herzfrequenz, die einem Laktatwert von 2,0-2,5 mmol/ l Blut entspricht, also im sogenannten GA1 Bereich (GA steht für Grundlagenausdauer).
  • Ausdauerbelastungen sind zur Stärkung des Immunsystems besonders geeignet, aber auch Krafttraining dient diesem Ziel. Wählen Sie eine Ausdauerdisziplin, die Ihnen Spaß macht und die sie motiviert, regelmäßig 2 bis 4 x / Woche „am Ball zu bleiben“.
  • Halten Sie nach dem Training Zeit zur Regeneration ein. 24 Stunden sind nach Belastungen im GA1-Bereich ausreichend. Pausieren Sie länger nach Belastungen mit höheren Intensitäten.
  • Achten Sie auch auf Ihre psychischen Stressbelastungen in Ihrem (Berufs-) Alltag, denn auch diese können mit steigender Intensität und zunehmender Dauer Ihr Immunsystem negativ beeinflussen.
Bernd Gimbel © privat
Dr. Bernd Gimbel ist Gesellschafter der KörperManagement® KG. Er war als wissenschaftlicher Mitarbeiter des Bundesausschusses für Leistungssport beim Deutschen Olympischen Sportbund tätig. Derzeit lehrt er als Dozent an (der Deutschen Fitnesslehrer Akademie) und der Berufsakademie (für) Sport und Gesundheit (dba) in Baunatal. Zudem ist Dr. Gimbel Autor mehrerer Bücher über Körpermanagement.
Hier geht’s zur Website