Seitenstechen: Eine Joggerin stoppt den Lauf, legt die Hände in die rechte Seite und krümmt sich

Seitenstechen – lästig, aber nicht gefährlich

Mittwoch, 20.05.2020

Wer kennt Seitenstechen nicht? Erfahre von unserem Experten Dr. Bernd Gimbel woher der Schmerz kommen kann und welche Tipps er parat hat.

© Foto: LMproduction, Adobe Stock

Viele Sportler haben es schon erlebt: Beim Laufen (seltener bei anderen Ausdauerdisziplinen wie Radfahren oder Schwimmen) treten ein- oder beidseitig stechende Schmerzen unterhalb des unteren Rippenbogens auf. Bei Reduzierung der Geschwindigkeit verschwinden sie allmählich wieder. Betroffen sind meist Untrainierte oder Personen, die zeitnah vor dem Laufen etwas gegessen haben.

Seitenstechen: Viele Theorien - wenig Beweise

Seitenstechen ist lästig. Jeder, der damit Erfahrung hat, kennt seine eigene Strategie, wie er damit umgeht. Lauftempo verringern, stehen bleiben, den Oberkörper vorn über beugen, die stechende Seite massieren, warten bis die Beschwerden vorüber sind und dann langsam weiterlaufen. Die Kenntnis der Ursache könnte helfen, bessere Strategien zur Vorbeugung von Seitenstechen zu entwickeln.

Leider fehlen eindeutige Studienergebnisse, denn es tritt zu kurz auf, um wissenschaftliche Untersuchungen durchzuführen. Die bekannteste Theorie lautet: „Seitenstechen geht auf eine Verkrampfung des Zwerchfells zurück.“ Für diese These spricht, dass das Zwerchfell als wichtigster Atemmuskel beim Laufen stärker belastet, aber schwächer durchblutet wird als in Ruhe, weil das Blut mit seinen Nährstoffen und dem Sauerstoff für die Energiebereitstellung in der arbeitenden Muskulatur zur Verfügung gestellt wird. Dagegen spricht, dass das Zwerchfell ein gut trainierter, damit belastbarer Muskel darstellt, die Probleme aber meist bei geringer Laufgeschwindigkeit auftreten.

Tatsächlich könnte es sein, dass Seitenstechen in Verbindung mit der Umverteilung des Blutes in Zusammenhang steht. Interne Regulationsmechanismen im Organismus sorgen dafür, dass die Muskeln bei Belastung bis um das Zwanzigfache mehr mit Blut versorgt werden als im Ruhezustand. Dagegen wird den inneren Organen, wie z.B. der Leber und Milz Blut entzogen. Die damit einhergehende Verformung der Organe und der Bindegewebsstrukturen, an denen sie im Bauchraum aufgehängt sind, verursachen vermutlich in Verbindung mit der Erschütterung beim Laufen die Seitenstiche. Der sogenannte Kapselschmerz entsteht dann in der Leber, wenn das Blut verstärkt zu den Muskeln fließt.

Es wird auch diskutiert, dass es bei Nahrungsaufnahme zeitnah vor Trainingsbeginn zu einer Magenreizung kommen kann, weil auch in diesem Fall Blut aus anderen Teilen des Organismus in den Magen-Darm-Trakt gelenkt wird, um die Verdauungsarbeit zu unterstützen. Die Dehnung des Magens und seiner umhüllenden Kapsel könnte das Seitenstechen auslösen.

Zudem kann sich durch die Erschütterung im Dickdarm eine Gas-Blase bilden, die den Darm dehnt und dadurch Schmerzen erzeugt. Deshalb versuchen einige Läufer als Gegenmittel, Medikamente gegen Blähungen einzusetzen.

Da Leistungssportler kaum von Seitenstechen betroffen sind, ist anzunehmen, dass der Trainingszustand Einfluss auf dieses Phänomen hat. Aus einer Studie geht eindeutig hervor, dass eine Fehlhaltung der Wirbelsäule (Hyperlordose oder Kyphose) das Auftreten von Seitenstichen begünstigt.

Auch an anderen Stellen wird erwähnt, dass eine gute Körperhaltung beim Laufen dem Seitenstechen vorbeugen kann. Dabei gilt, dass die Stiche umso häufiger und kräftiger auftreten, je schlechter die Körperhaltung der Läufer ist. Es könnte sein, dass eine gekrümmte Haltung den Druck im Bauchraum erhöht und die Nerven zwischen den Rippen (Interkostalnerven) oder im Rückenbereich reizt. Ein Beleg für diese These ist, dass in den meisten Fällen kontrolliertes Atmen und Aufrichten des Oberkörpers gegen Seitenstechen hilft.

Vermutlich spielen beim Auftreten von Seitenstechen mehrere dieser diskutierten Faktoren zusammen. Frühere Annahmen, dass das Alter oder der Body-Mass-Index Einfluss auf die Häufigkeit und das Entstehen von Seitenstichen haben, scheinen sich nach aktuellen Studien nicht zu bestätigen.

Seitenstechen: Praktische Tipps

Da der Trainingszustand das Phänomen Seitenstechen beeinflusst, ist es wichtig, nicht nur die Ausdauerkomponente im Blick zu haben, sondern allgemein die Körperhaltung und im speziellen die Lauftechnik zu trainieren.

  • Allen Freizeit- und Gesundheitssportlern ist deshalb zu raten, der Rumpfstabilität im Training mehr Beachtung zu schenken. Eine sogenannte biomechanische Funktionsanalyse der Wirbelsäule hilft, muskuläre Dysbalancen zwischen Bauch- und Rückenmuskeln zu analysieren. Gleichzeitig können gezielte Atemübungen die Elastizität der Bänder im Bauchraum erhöhen.
  • Des Weiteren sollte auf eine kontrollierte Nahrungsaufnahme 1 bis 4 Stunden vor dem Training Wert gelegt werden, um dem Auftreten von Seitenstechen vorzubeugen.
  • Vor dem Training ist auf ein intensives Aufwärmen zu achten, um den Organismus langsam auf die anstehende Belastung vorzubereiten.
  • Wenn die lästigen Stiche dennoch einmal auftreten sollten, dann ist empfehlenswert langsamer zu laufen oder kurz stehenzubleiben, um den Druck im Bauchraum zu reduzieren und das Zwerchfell zu entlasten. Durch nach oben Strecken der Arme wird der Körper in eine aufrechte Haltung gebracht und die an der Atmung beteiligten Muskeln gedehnt. Ein gleichzeitig langsames und kontrolliertes Ausatmen kann schmerzlindernd wirken.

Auch wenn Seitenstechen lästig ist, es hinterlässt zum Glück keine bleibenden Schäden und ist kein Grund für das Argument, besser nicht laufen zu gehen.

Bernd Gimbel © privat
Dr. Bernd Gimbel ist Gesellschafter der KörperManagement® KG. Er war als wissenschaftlicher Mitarbeiter des Bundesausschusses für Leistungssport beim Deutschen Olympischen Sportbund tätig. Derzeit lehrt er als Dozent an der Deutschen Fitnesslehrer Akademie und der Berufsakademie für Sport und Gesundheit in Baunatal. Zudem ist Dr. Gimbel Autor mehrerer Bücher über Körpermanagement.
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