Heads with colorful cubes as a symbol of mentoring and psychotherapy.

Lass uns über mentale Gesundheit sprechen – Interview mit einer Sozialpädagogin

Freitag, 20.10.2023
Interview mit Marlijn Weber
© Foto: Vitalii Vodolazskyi, Adobe Stock

Jeder 3. Mensch leidet im Laufe seines Lebens einmal an einer psychischen Erkrankung. Aber was ist eine psychische Erkrankung überhaupt und wo bekommst Du Hilfe, wenn Du sie brauchst? Diese und viele weitere Fragen beantwortet uns in diesem Beitrag Sozialpädagogin Marlijn Weber.

Marlijn Weber ist Sozialpädagogin (B. A.) in einem Krankenhaus für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatische Medizin in Bayern. Sie hat sich bereits im Studium das Thema „Sozialpsychiatrie“ als Schwerpunkt gesetzt und sich dabei mit der Vereinbarkeit von Leben und Krankheit beschäftigt. In ihrer täglichen Arbeit versucht sie die Prävention vor psychischen Erkrankungen zu forcieren, aber auch die Integration dieser in die Biographie sowie die Gegenwart und Zukunft des eigenen Lebens zu befähigen.

Heute soll es um das Thema Mental Health bzw. psychische Gesundheit gehen. Zu Beginn sollten wir aber vielleicht kurz definieren, was psychische Krankheiten überhaupt sind.

Das ist schwer zu definieren, weil psychische Krankheiten unglaublich viele Facetten mit sich bringen. Aber es gibt eine Definition der WHO, laut dieser sind es Störungen der psychischen Gesundheit, die oft durch eine Kombination von belastenden Gedanken, Emotionen, Verhaltensweisen und Beziehungen zu anderen gekennzeichnet sind. Ganz einfach könnte man auch sagen, dass psychische Krankheiten Ausnahmezustände der Psyche sind.

Wenn es um psychische Krankheiten geht, werden mit diesen auch immer Vorurteile in Verbindung gebracht. Kannst du dazu mehr sagen?

Eine psychische Erkrankung ist in unserer Gesellschaft ein Stigma. Das geht über „einfache Vorurteile“ hinaus, würde ich sagen. Aber das geläufigste Vorurteil ist vermutlich, dass diese Menschen als verrückt bezeichnet werden. Als wären sie nicht mehr Herr ihrer Sinne und könnten nicht mehr richtig von falsch unterscheiden. In den meisten Fällen ist das aber natürlich gar nicht der Fall. Auch unterstellt man Menschen mit einer psychischen Erkrankung gerne, dass sie dumm seien oder arm oder alleine.

Dabei kann eine psychische Erkrankung jeden treffen. Kannst du sagen wie viele Menschen bei uns in Deutschland betroffen sind?

Laut dem Statistischen Bundesamt leidet jeder 3. Mensch im Laufe seines Lebens einmal an einer psychischen Erkrankung. Und eine Studie der DGPPN besagt, dass 27,8% der Bevölkerung in Deutschland jährlich von einer psychischen Erkrankung betroffen sind. Psychische Erkrankungen werden mittlerweile schon als Volkskrankheit angesehen.

Was man auch nicht unterschätzen darf, ist die enorm hohe Dunkelziffer. Also all die Leute, die leiden oder merken, dass sie Probleme haben und diese nicht wahrhaben wollen und sie verbergen oder sich ganz einfach nicht trauen Hilfe zu suchen. Gerade in der Corona Pandemie sind die psychischen Erkrankungen deutlich angestiegen.

Gibt es grundsätzlich Dinge, auf die man achten kann, wenn es um psychische Krankheiten geht? Dinge bei denen die Alarmglocken angehen sollten? Sowohl bei sich selbst als auch bei anderen.

Bei sich selbst sollte man aufmerksam werden, wenn einem auffällt, dass „etwas anders ist“. Wenn man merkt, dass man auf Ereignisse plötzlich anders reagiert, als man es früher getan hätte. Impulsiver als sonst oder uninteressiert und teilnahmslos. Vielleicht zieht man sich auch zurück oder stellt fest, dass einem Dinge sehr zu schaffen machen, die einem sonst eigentlich egal waren. Es gibt auch physische Indikatoren: Situationen, die früher kein Problem waren bereiten einem nun Bauchschmerzen. Oder man hat so viel Stress auf der Arbeit, dass schon am Vorabend Kopfschmerzen aufkommen, die eigentlich keine andere körperliche Ursache haben. Das ist dann psychosomatisch. Wenn man solche Dinge bei sich bemerkt, sollte man was tun.

Bei Freunden, Familie etc. ist es ähnlich. Wenn einem Verhaltensveränderungen auffallen, sich jemand zurückzieht oder Dinge sagt, die sehr uncharakteristisch für die Person sind, dann können das Alarmzeichen sein. In diesem Fall sind Kommunikation und ein offener Umgang sehr wichtig. Man sollte ansprechen, was einem aufgefallen ist und schauen, wie die Person reagiert. Man sollte es auf jeden Fall thematisieren, weil die Personen sich das oftmals durchaus wünschen oder sogar darauf warten, dass sie jemand anspricht. Oder in dem Moment vielleicht erst merken: ja stimmt, ich habe mich distanziert.

Fällt die Reaktion sehr negativ oder abweisend aus, kann man es auch schriftlich versuchen. Vielleicht auch eine Adresse oder Telefonnummer mit beilegen, wo man Hilfe bekommen kann. Denn oft schämen sich Betroffene einfach und dann fällt es ihnen leichter sich von Fremden helfen zu lassen.

„Unsere Psyche ist komplex und noch lange nicht vollständig ergründet. Sie ist eine gewaltige Kraft. Eine von deren Ausmaß wir eigentlich noch keine Ahnung haben. Sie kann zerstörerisch sein. Aber sie ist auch überlebenswichtig. Denn sie hilft uns mit den Dingen in dieser Welt fertig zu werden. Und mit etwas Glück lässt sie uns Wunderschönes empfinden.“

Du hast täglich mit Betroffenen zu tun. Mit welchen Schwierigkeiten kämpfen sie im Alltag und im Beruf?

Eine psychische Erkrankung kann einen, wie jede andere Krankheit auch, ganz schön umhauen. Gerade, wenn man das zum ersten Mal erlebt oder man damit noch nicht so gut umgehen kann. Dann kann man das noch nicht einordnen und weiß auch gar nicht, was mit einem los ist. Also ist es körperlich oder psychisch? Das ist erstmal total verwirrend und überfordernd und sehr energieraubend. Am Anfang ziehen sich viele dann einfach zurück und lassen die tagtäglichen Aufgaben schleifen.

Gegebenenfalls muss man sich auch arbeitsunfähig melden. Aber da kommt es auch immer darauf an, wie stark eine Erkrankung ausgeprägt ist und wie gut derjenige damit umgehen kann. Wie gut reagiert er auf Medikamente, wie gut schlägt die Therapie an. Es hängt von vielen Faktoren ab, aber grundsätzlich kann man sagen, dass eine psychische Erkrankung eine Erschütterung ist und die oftmals eben erst mal eine Arbeitsunfähigkeit mit sich bringt. Auch, wenn es viele Fälle gibt, bei denen das nur vorübergehend ist. Es gibt jedoch auch Erkrankungen, die so tiefgreifend sind, dass Betroffene von der Arbeitsunfähigkeit in die Erwerbsunfähigkeit rutschen.

Neben den fehlenden Einnahmen durch den Job können zusätzliche Ausgaben hinzukommen. Für Medikamente oder Therapien, die nicht von der Krankenkasse übernommen werden beispielsweise. Über die Zeit kann es sein, dass man eine Erwerbsminderungsrente beantragen muss oder auf Sozialleistungen angewiesen sein wird. Das ist dann kein Vergleich mehr zum vorherigen Leben.

Ich würde daher unbedingt empfehlen, sich zusätzlich abzusichern. Gerade die Berufsunfähigkeitsversicherung sehe ich als essentielle Versicherungen, die meiner Erfahrung nach aber viel zu selten abgeschlossen wird. Wir haben leider oft mit Menschen zu tun, die finanziell sehr gut aufgestellt waren und dann in die Armut abgerutscht sind, weil sie keine Absicherung hatten.

„Die menschliche Psyche ist wie die Natur selbst. Verglichen mit einem Ozean, kann sie ruhig und schön sein, aber auch unberechenbar und toben wie ein Sturm. Darum muss sie gut kontrolliert und gepflegt werden. Am besten mit Unterstützung.“

Sagen wir jemand braucht therapeutische Hilfe, bekommt man die dann so einfach? Die Wartezeiten für Therapieplätze sollen ja teils sehr lang sein.

Jeder Mensch in Deutschland, der dringend und jetzt Hilfe braucht, der bekommt sie auch. Grundsätzlich gilt: wenn man merkt, irgendwas verändert sich, ich brauche jemanden zum Reden oder Hilfe, dann ist tatsächlich der Hausarzt die erste Adresse.

Wenn man schon weiß, dass man eine Psychotherapie benötigt, dann kann man sich eine Psychotherapeutin oder Psychotherapeuten suchen. Der muss auch nicht in seinem Ort und in seinem Einzugsgebiet sein, da hat man freie Wahl deutschlandweit und kann sich dort anmelden für eine Sitzung. Dafür braucht man auch keine Überweisung. Und im Prinzip übernimmt jede Krankenversicherung diese Leistung. Da sind wir im europäischen Vergleich gut aufgestellt.

Das andere ist natürlich die Wartezeit. Da ist es in der Tat so, dass man durchaus einige Monate bis zur ersten Sitzung warten muss, gerade außerhalb von Ballungsgebieten. Aber man kann auch im Internet schauen, ob es irgendwo freie Termin gibt. Und man hat natürlich auch die Möglichkeit auf private Psychotherapien in Anspruch zu nehmen und die Kosten dafür selbst zu tragen.

Kann man auch während seiner Wartezeit „aktiv“ werden und sich vorab anderweitige Hilfe suchen?

Auf jeden Fall. Wir leben in einer Zeit, in der es eine große Menge an Angeboten gibt. Es gibt z.B. Selbsthilfekoordinationsstellen, die einen bei der Suche nach einer passenden Selbsthilfegruppe unterstützen.

Dann gibt es den sozialpsychiatrischen Dienst (SPDI), der einen bei behördlichen Angelegenheiten wie Krankschreibung oder Krankengeld hilft. Er bietet aber auch gemeinschaftliche Unternehmungen, wie z.B. regelmäßige Gruppentreffen oder Ausflüge an. All das kann man übrigens auch wahrnehmen, wenn man nicht krankversichert ist.

Es gibt auch Träger wie die Caritas oder die Diakonie. Die haben Sprechstunden für Familien, bieten Hilfe in Scheidungsangelegenheiten, Schuldenberatung, etc. an. Es gibt so viele Angebote heutzutage, man muss sie nur wahrnehmen.

Falls es schnell gehen muss:

Ist es so dringend, dass es nicht warten kann, gibt es auch immer noch diese 3 Anlaufstellen:

  1. Überall, wo es psychiatrische Institutsambulanzen gibt, gibt es in der Regel eine Krisen-Sprechstunde, mindestens einmal pro Woche, wo man ohne Termin einfach hingehen kann.
  2. Dann gibt es vielerorts Krisendienste (z.B. in Bayern) Das sind Hotlines, bei denen man immer eine Person erreicht, die auch ausgebildet ist und mit der man dann erstmal sprechen kann. Diese Person entscheidet dann, ob ein Termin am nächsten Tag in einer Fachstelle notwendig ist. Oder, im schlimmsten Fall, dass ein mobiles Einsatz Team zur betroffenen Person nach Hause kommt.
  3. Und was natürlich immer geht, wenn alle Stricke reißen und man Angst hat sich selbst etwas anzutun oder eine Gefahr für andere ist, kann man immer den Rettungsdienst oder die Polizei anrufen oder zur nächsten Akutpsychiatrie gehen. In solchen Fällen hat die Akutpsychiatrie immer Aufnahmepflicht. Wenn hier die erste Anlaufstelle ausgelastet ist, muss einen die nächstmögliche aufnehmen.

Zum Abschluss: Was sind deine Tipps für mentale Gesundheit?

Man sollte seine Psyche beobachten, sie hegen und pflegen wie jedes andere Körperteil auch. Wie genau das aussieht, da hat jeder seinen individuellen Weg. Das kann sein: Meditation, ein Spaziergang, ein Hobby, Freunde treffen oder sich abends ein Tagebuch nehmen und seine Gedanken aufschreiben – es gibt so viele Möglichkeiten. Aber ich denke, dass es wichtig ist, solche Dinge zu tun und das ganz bewusst und regelmäßig. Psychisch gesund zu sein ist das eine, es zu bleiben das andere!

Solltest Du dich in einer schwierigen Lebenssituation befinden und brauchst Hilfe, hast Du hier erste Anlaufstellen:

Deutsche Depressionshilfe

Telefonseelsorge
0800/11 10 111